Anmerkungen zur Partiturspielschule von Heinrich Creuzburg

Creuzburg, Heinrich: Partiturspiel Bd. 1-4.

Schott-Verlag, MainzDieses Lehrwerk ist im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Ich verwendete es in meinen Lehrveranstaltungen an der Hochschule für Musik Saar, vor allem weil es

  • erschwinglich ist,
  • indem es viel bietet, auch vielen etwas bietet,
  • die dort vertretenen Grundsätze fast ausnahmslos meine Zustimmung finden.

Perfekt ist die Creuzburg-Schule nicht. Auch sind nicht alle vier Bände gleichermaßen ergiebig. Am effizientesten arbeiten Sie (nach meinen Erfahrungen) mit dem 1. und 4. Band. In allen vier Bänden gibt es die eine oder andere Ungereimtheit im methodischen Aufbau – aber auch manches Beispiel, das zu üben ganz besonders lohnend ist.

Band 1

Hier geht es ausschließlich um das Erlernen der alten Schlüssel: Diskantschlüssel, Altschlüssel und Tenorschlüssel. Von zweistimmigen Übungen ausgehend wird die Zahl der Systeme bis vier (teilweise fünf) erhöht. Auch wer nur über eingeschränkte Fertigkeiten auf dem Klavier verfügt, wird eine ausreichende Menge guter Übungsbeispiele vorfinden – beispielsweise Musikwissenschaftler/innen und Orchestermusiker/innen, die für den täglichen Umgang mit Kammermusikpartituren (Streichquartett, Alt- und Tenorschlüssel) Professionalität gewinnen wollen. Andererseits finden sich auch für angehende Kapellmeister/innen lohnende Aufgaben.

Schade, daß der Mezzosopranschlüssel ausgespart wird. In der alten Musik kommt er oft vor und er bereitet das Feld für die F-Stimmung.

Kommentare zu ausgewählten Übungsbeispielen:

S. 13, Nr. 4: Es lohnt sich, dieses etwas unangenehme Beispiel in Angriff zu nehmen: Bratschen werden oft mit vielen Hilfslinien im Altschlüssel notiert.

Nr. 12: ganz Ehrgeizige spielen den Schluß doch schon vierstimmig (wenn man ganz langsam anfängt, genau liest und einen Samstagnachmittag lang Zeit hat, geht es).

S. 20, Nr. 13: Warum werden in Partiturspielschulen eigentlich keine Texte mitgeliefert? Vielleicht aus Kostengründen nicht. Oder: um zu beweisen, wie grau doch alle Theorie sei. Dabei ist doch ein Großteil des sogenannten Theorieunterrichts eigentlich Praxis – und Partiturspiel doch erst recht! Von den Lasso-Bicinien könnte man jedenfalls noch mehr profitieren, wenn man den Text wüßte (läßt sich natürlich auch herausfinden).

S. 29f, Nr. 20a): Viele empfinden diese erste der Übungen mit drei alten Schlüsseln als besonders schwer. Ergiebig ist sie schon deshalb, weil die ungewohnte Stilistik das Raten erschwert. Auch sind ein paar unangenehme Stimmkreuzungen enthalten. Man wird mit Nr. 20 a) geradezu ins kalte Wasser geworfen. Wer nicht genug abgehärtet für eine kalte Dusche ist, übe zunächst die herrliche Musik der Beispiele 20b – d).

S. 35, Nr. 23: eine der bis hierhin schwersten, aber absolut lohnenden Beispiele. Wenn Sie Nr. 23 bewältigt haben, werden sie erstens den Altschlüssel ein Stück besser beherrschen und zweitens dieses Rezitativ für den Rest Ihres Lebens mit anderen Ohren hören (und mit geschärften Augen lesen).

S. 37, Nr. 25: Das erste Beispiel führt schön in das freie Spiel von instrumental-idiomatisch geprägten Partituren ein. Beispiel 25b) ist wieder eher stimmig, aber vergleichsweise nicht eben leicht.

S. 40ff, Freie Schlüsselkombination Weshalb Heinrich Creuzburg dies als »Übergang zur Vierstimmigkeit« deklariert, verstehe ich nicht. Manche Beispiele (28a, 29) sind im Gegenteil verzwickt (es sei denn, man vereinfacht sich 28a radikal – aber ist das der Sinn der Übung?). Als Einführung in die Vierstimmigkeit ist das Kapitel völlig ungeeignet. Es lohnt sich aber, später darauf zurückzukommen.

S. 48f.f, Nr. 36 und 37: An der dieser Stelle des Lehrgangs immens schwer – in erster Linie wegen der vielen Stimmkreuzungen. Das Üben lohnt sich unbedingt – aber leicht macht es Creuzburg Ihnen hier nicht!

S. 50ff, Nr. 38 und 39: Ich würde diese drei Beispiele in genau umgekehrter Reihenfolge üben.

S. 58ff, Nr. 42 und 43: auch hier ist das zweite Beispiel das einfachere.

S. 64ff., Nr. 45c): Das Kyrie aus dem Requiem Mozarts will geübt sein.

Band 2

Hier werden drei Arbeitsgebiete behandelt:

  1. Stimmtausch
  2. Das Lesen der transponierenden Instrumente
  3. Die Übertragung (zunächst weniger komplexer Partiturbilder) aufs Klavier (siehe Anmerkungen zu Bd. 3).

Stimmtausch

Die Behandlung der Stimmtauschproblematik ist rundum gelungen. Die etüdenartige Bearbeitung von Vokalsätzen wird mit der Übung einschlägiger Literaturstellen aus der Kammermusik verknüpft. Wie in Band 1 gibt es eine Progression von Zwei- zu Vierstimmigkeit. Creuzburg wählt als Partituranordnung stets die des Streichquartetts (bzw. Ausschnitte daraus). Auf diese Weise wird man neben dem Training des Stimmtausches ein gutes Einlesen in das Notenbild des Streichquartetts bzw. -orchesters erreichen; und das ist die Grundlage für das Spiel umfangreicherer Orchesterpartituren.
Die Übungen zum Stimmtausch können bereits parallel zur Erarbeitung des 1. Bandes beginnen – sobald eine gewisse Sicherheit im Lesen des Alt- und Tenorschlüssels erreicht wurde. Umgekehrt zwingt die Bewältigung der Stimmtauschproblematik dazu, die Schlüssel wirklich absolut zu lesen.

Kommentare zu ausgewählten Übungsbeispielen:

S. 7, 1c): Eine ausgezeichnete Konzentrationsübung! Wer das Beispiel gut bewältigt, darf überdies schon eine gewisse Sicherheit im Lesen des Alt- und Tenorschlüssels für sich reklamieren. Gerade diese beiden Schlüssel werden am Anfang oft verwechselt.

S. 8, unten: Lasso, Beatus vir: für den Einstieg in die Dreistimmigkeit ist dieses Beispiel relativ schwer. Besser vorher das zweite Beispiel (S. 9, Clemens non papa, Es gingen zwei Gespielen gut) erarbeiten.

S. 11, Schroeder, Der geistliche Maien: eine lohnende Aufgabe: wegen des (gemäßigt) modernen Idioms, aber auch für das Lesen der hohen Lage der Viola (in der Praxis unverzichtbar).

Transponierende Instrumente

Lesens- und beherzigenswert sind die prinzipiellen Erläuterungen, die Creuzburg zur Problematik des Erlernens der Transpositionen gibt. Es folgen viele, gute Übungen zur B-Stimmung, deutlich weniger zur A-Klarinette und zu den anderen, wichtigen Stimmungen. Einige Transpositionen werden recht sparsam behandelt. Die Beispiele weisen leider bisweilen größere pianistische als lesetechnische Probleme auf. Sicher hatte Creuzburg bei der Zusammenstellung vor allem Kapellmeister/innen im Visier. Nebenfachpianisten/innen sind leider bisweilen überfordert. Mit Ausnahme der B-Stimmung gibt es generell zu wenig Übungsstoff. Schade auch, daß kaum Beispiele aus dem 20. Jahrhundert vorkommen. Gerade an freitonalen oder atonalen Idiomatiken läßt sich das Transponieren in Reinkultur üben. Die Schule von Günter Fork (siehe [1]) bietet hier besseres.

Kommentare zu ausgewählten Übungsbeispielen:

B-Stimmung:

S. 29, Nr. 4b): Die Mittelstimmen (Fagotte) auf rechte und linke Hand verteilen. Der Orgelpunkt kann dann auch von der linken Hand (zunächst) oktaviert (c in der kleinen Oktave) gehalten werden. Das Notenbild suggeriert – gerade für Organisten/innen – eine andere Aufteilung. Nota bene: beim Partiturspiel sind Schriftbild und Griff auf dem Klavier zwei verschiedene Angelegenheiten!

S. 29f., Nr. 6) Hier wird vor allem Stimmtausch trainiert – die B-Stimmung bereitet hier demgegenüber weniger Probleme!

S. 31, Nr. 7b) Hier versagen alle Tricks und Abkürzungen – sorgfältiges (langsames und genaues!) Üben lohnt sich!

S. 31, Nr. 8) Die in der Praxis häufige Verschränkung der Stimmen im vierstimmigen Satz zwischen Klarinetten und Fagotten wird hier geübt. Hier ist es die Satzverschränkung, welche zum absoluten Lesen der B-Stimmung zwingt. Auch eine äußerst lohnende Aufgabe!

S. 31, Nr. 9) Eine gute Übung zum raschen Umschalten zwischen Bläser- und Streicheranordnung. Und: kein CD- oder Konzerterlebnis kann die Einblicke vermitteln, die das lesende (und spielende) Erfassen der letzten drei Takte des Beispiels bieten.

A-Stimmung:

Schade, hier wären mehr und vor allem lesetechnisch (nicht klaviertechnisch) schwierigere Beispiele vonnöten.

Baßklarinetten

Viele empfinden Nr. 20 d) auf S. 38 als schwer. Wer kann, sollte auch einmal versuchen, akkordisch komplex zu transponieren (A-Dur – Septakkord wird G-Dur – Septakkord usw.).

F-Stimmung

Nr. 22 und 25 sind dann – und nur dann – schwer, wenn man ganz detailgetreu, ohne Eingriffe in Oktvlagen, Auslassungen usw. spielt. Dann allerdings wird weniger die F-Stimmung, als vielmehr Satzvertauschung und Stimmtausch trainiert – was selbstredend keineswegs schädlich ist.

S. 42, Nr. 27: eines der wenigen (gemäßigt) modernen Beispiele. Hier zwingt die Stilistik zu präzisem Lesen (oder Rechnen, je nachdem). Raten darf man wieder bei Nr. 28 auf der folgenden Seite.

S. 43, Nr. 29: sieht leichter aus als es (am Ende) ist.

D-Stimmung

Nr. 31: wer bis hier vorgedrungen ist, sollte die Stelle ruhig aus der Originalpartitur erarbeiten.

Nr. 32: eine (an dieser Stelle des Lehrgangs) durchaus harte Nuß – die D-Stimmung ist noch das geringste Problem.

E-, Es- und andere Hornstimmungen

Nr. 35, vor allem aber Nr. 36 sind vom Partiturbild her nicht gerade leicht. Nr. 39 sollte man ruhig einmal bis ins Orignaltempo steigern. Lohnend sind die Beispiele Nr. 40 a) und b). Nr. 42 wird bedeutend leichter, wenn man die Oktavverdopplungen wegläßt (ich würde gerade deshalb mit Verdopplungen üben!).

Band 3

Dieser Band hat dieselbe Gliederung wie Band 2. Die Aufgaben sind jedoch graduell anspruchsvoller. Die Beispiele sind durchgehend (mindestens) vierstimmig.

Übungen zum Stimmtausch

Uneingeschränkt empfehlenswert ist die Beschäftigung mit den Stimmtauschübungen. Es ist Creuzburgs Verdienst, Stimm- und Satzvertauschung als ein zentrales Problemfeld des Partiturspiels erkannt, systematisiert und didaktisch aufbereitet zu haben!

Creuzburg läßt den Stimmtausch anhand der Streicherquartettanordnung üben – und schlägt damit die sprichwörtlichen zwei Fliegen mit einer Klappe, denn wer diese Etüden sorgfältig durcharbeitet, schafft sich gleichzeitig eine gute Grundlage für das Lesen des Streichersatzes in der klassischen Orchesterpartituranordnung.

Transponierende Instrumente

Im dritten Band wird das Lesen zweier Transpositionen zugleich (neben C-Stimmen) verlangt. Stärker noch als in den Beispielen des 2. Bandes wird hier auch eine gewisse Souveränität und Nonchalance beim Übertragen von Notenbildern in grifftechnisch praktikablen Klaviersatz verlangt. Die Beispiele sind unterschiedlich ergiebig – vor allem hätte es (quantitativ) mehr Übungsstoff sein dürfen.

Kommentare zu ausgewählten Übungsbeispielen:

S. 20, Nr. 2: ein leichtes, sehr bekanntes Beispiel – es sei denn, man zwingt sich, die Takte, in denen die Es-Hörner (wesentlich) beteiligt sind, wirklich detailgenau zu spielen!

S. 20, Nr. 4a) und b): Der Satz ist ohne Eingriffe nicht darstellbar (Kb über weite Strecken loco spielen, Hörner und Klarinetten bisweilen heranoktavieren). Gerade dadurch wird jedoch das Melodielesen erschwert – und das absolute Lesen der B- und F-Stimmung forciert! Insofern ein treffend gewähltes Beispiel.

S. 20, Nr. 6: Spieltechnisch anspruchslos werden die Leseanforderungen hier von den meisten als hoch empfunden. Kurzum: dies ist eine gerade für Nebenfach-Pianist(inn)en ausgesprochen nützliche Übung zum Lernen der F- und B-Stimmung (und mancher oder manchem bereitet auch der Tenorschlüssel noch Pein).

S. 24, Nr. 9: eine hervorragende Übung für die bei Wagner so wichtigen E-Hörner – leider hat man es allzu schnell im Ohr.

Die Übertragung aufs Klavier (Anmerkungen zu Bd. 2 und 3)

Hier werden Partiturbilder von überschauberer Kammermusik bis hin zu sinfonischen Orchesterbesetzungen wiedergegeben und dazu jeweils ein Klavierauszug vorgeschlagen. Den von Creuzburg propagierten Klaviersatz halte ich für überladen, bisweilen auch für stilistisch fragwürdig. Die Übertragungen sind klar auf die Zielgruppe »Kapellmeister/innen mit guten pianistischen Fähigkeiten« ausgerichtet. Praxisnäher, vielseitiger und auch methodisch griffiger stellt Günther Fork in seinem Lehrwerk (siehe [1]) das weite Feld der Klavierübertragung dar. Vor allem finden hier auch schwächere Klavierspieler(innen) gute Hilfestellungen für technische Vereinfachung, Ausdünnen das Satzes usw.

Band 4

Im vierten Band geht es ausschließlich um Erlernen der transponierenden Instrumente. Bis zu drei verschiedene Transpositionen sind zu bewältigen. Zugleich werden extreme Satzvertauschungen geboten – was durchaus der Realität von Bläserpartituren und der Orchester- und Opernliteratur des 19./20. Jahrhunderts entspricht.

Creuzburg kombiniert

  • als Etüden gedachte Bearbeitungen von Vokalsätzen (häufig Choralsätze Bachs) für verschiedene Bläserbesetzungen
    mit
  • einem Literaturbeispiel, das eine ähnliche Anordnung aufweist.

Die Beschäftigung mit diesem Band lohnt sich für jeden oder jede, der oder die professionell mit Orchesterpartituren zu tun hat. Nicht nur, wenn Sie Kapellmeister/in werden wollen, auch als angehende(r) Tonmeister/in oder Komponist/in werden Sie nach Durcharbeiten der Übungen die meisten Transpositionen absolut lesen können. Auch Satzvertauschung und Stimmtausch werden Sie dann nicht mehr als Problem erleben.